Cover
Titel
Une petite histoire de l'anarchisme.


Autor(en)
Enckell, Marianne
Anzahl Seiten
122 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Florian Eitel, Biel

Klein ist das Buch „Une petite histoire de l’anarchisme“, was Umfang und Format anbelangt, aber nicht in Bezug auf den Inhalt. Auf gut 100 Seiten präsentiert Marianne Enckell einen Streifzug durch 150 Jahre Geschichte des Anarchismus in seiner globalen Ausrichtung. Das Buch der Historikerin und langjährigen Archivarin des Centre internationale de recherches sur l’anarchimse (CIRA) und ausgewiesenen Kennerin der Geschichte des Anarchismus geht auf ihre Artikelserie für die Zeitschrift „Ràfraction, recherches et expressions anarchistes“ von 2001 zurück, in der Enckell auf 40.000 Zeichen eine Kurzgeschichte des Anarchismus vorlegte. Eine Herausforderung, eine politische Bewegung, die durch die Heterogenität der sozialen Herkunft der Anhänger:innen, der Programme und der Aktionsformen geprägt ist, in solch wenige Zeichen zu fassen. Nun liegt der Text von 2001 in einer erweiterten und aktualisierten Form vor.

Doch auch bei gut 100 Seiten waren inhaltliche Eingrenzungen notwendig: Enckell legt den Fokus auf den Anarchismus als Bewegung, das heißt auf Ereignisse und Akteur:innen, die sich als anarchistisch bezeichneten. Damit grenzt sie sich vom ideengeschichtlichen Ansatz ab, der in den Überblickswerken zum Anarchismus am häufigsten anzutreffen ist. Ihre Geschichte beginnt nicht wie üblich beim englischen Philosophen William Godwin und seinem Buch „Enquiriy Concerning Political Justice“ von 1792, sondern mit einem Streik der Typographen und Bauarbeiter in Genf im Jahre 1868. Laut der Autorin schufen erst der politische und institutionelle Kontext der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), die als Erste Arbeiterinternationale in die Geschichte einging, den Nährboden, auf dem der Anarchismus als eigenständige Bewegung entstehen konnte. So bildete die IAA den Rahmen für erste internationalisierte Streiks wie denjenigen in Genf 1868. Dessen Neuartigkeit war die internationale Dimension: Aus einem lokalen Arbeitskonflikt entwickelte sich ein weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannter Streik, der ein breites mediales Echo in der neu entstandenen Arbeiter:innenpresse sowie Spenden zugunsten der Streikenden aus verschiedenen Ländern zur Folge hatte. Die internationale Ausrichtung und die entsprechende grenzüberschreitende Solidarität bildete ein neues Element der zunehmenden Streiktätigkeiten in Europa und Nordamerika. Enckell sieht darin den Ausdruck einer sich neu bildenden Arbeiter:innenidentität über nationalstaatliche und kulturelle Grenzen hinweg.

Auf dem Weg zum Anarchismus als eigenständige globale Bewegung bedurfte es noch weiterer diskursiver und praxeologischer Ausdifferenzierungen, nicht zuletzt gegenüber anderen sich damals entwickelnden innersozialistischen Strömungen, wie dem reformistischen Sozialismus oder jenem zentralistischer marxscher Prägung. Enckell beschreibt die Periode zwischen 1872 und 1877 für den Anarchismus als Schlüsseljahre. Für die vorangehende Zeit von Anarchismus zu reden, sei ein „Anachronismus“ (S. 19). In jenen Jahren bildeten sich insbesondere in den frühen Hochburgen des Anarchismus wie Italien, Spanien oder der Schweiz neue und für die weitere Geschichte des Anarchismus zentrale Konzepte wie der Kollektivismus oder der Anarchokommunismus.

Laut der Autorin liegt der Kern des Anarchismus häufig stärker in der Praxis als in der Theorie, was sie im zweiten Kapitel anschaulich anhand der Aktionsformen der sogenannten Propaganda durch die Tat oder der direkten Aktion aufzeigt. Anarchismusgeschichte muss man laut Enckell auch als internationale Mediengeschichte (bes. Kapitel 7) und als Globalgeschichte erzählen. Mehrmals durchbricht ihr Buch den in der Historiographie des Anarchismus stark verankerten Eurozentrismus. Als eines unter vielen weltweiten Schlaglichtern seien die Ereignisse in Japan im Jahre 1911 erwähnt (S. 28-29). Der japanische Kaiser ließ damals zwölf Anarchisten wegen Kaiserbeleidigung hinrichten. Der Tatbestand lag in einem in San Francisco erschienenen Artikel, in dem der Tennō als Abkömmling der Affen qualifiziert wurde. Neben der transnationalen Dimension dieser anarchistischen Aktivität und der staatlichen beziehungsweise monarchischen Gegenmaßnahmen kommt in diesem Beispiel auch die Verankerung des Anarchismus im Rationalismus der Aufklärung und in wissenschaftlichen Strömungen der Zeit, wie dem Darwinismus, zum Ausdruck.

Die Repression der Anarchist:innen als Oppositionelle gegen sämtliche Formen der Autorität – sei es in Form des Kapitalismus, des Staates oder der Kirche – bildet den Fundus von unzähligen Erzählungen und ein weiteres konstituierendes Element der anarchistischen Bewegung. Enckell geht in zwölf Kapiteln mehrmals auf identitätsstiftende Heldengeschichten und Narrative des Anarchismus als Opfer der Geschichte ein, ohne jedoch eine kritische Distanz missen zu lassen. Damit löst sie den im Vorwort verkündeten Ansatz einer differenzierten Geschichte ein. In ihrer Geschichte des Anarchismus sollen ebenso der „Kult des Heiligen Durruti oder der Heiligen Louise Michel und Emma Goldmann“ ihren Platz haben, wie Geschichten des „Scheiterns“, von „Fortschritten“, von „Konfrontationen“ und von „Erfolgen“ (S. 10). Ein gutes Beispiel für diesen schwierigen Spagat der Autorin, die sich ohne Wenn und Aber als Anarchistin bezeichnet, liegt im Kapitel zum Spanischen Bürgerkrieg, der wohl am stärksten von Legenden und Mythen durchtränkten Episode in der Geschichte des Anarchismus (S. 87-94). Stellenweise dringt die anarchistische Position der Autorin durch, jedoch grenzen sich diese Passagen klar von der historischen Analyse ab. Häufig handelt es sich dabei um Sätze, die auf die Zukunft gerichtet sind, wie beispielsweise am Ende des 9. Kapitels: „les anarchistes ont bel et bien un avenir – le monde nouveau reste à construire“ (S. 99).

Der Aufbau des Buches ist nur bedingt chronologisch. Auch geographisch springt die Autorin zwischen den Kontinenten und Ländern. In vielen Kapiteln greift Enckell für die ganze Geschichte des Anarchismus relevante Themenbereiche auf. Sie zeigt deren Bedeutung anschaulich und exemplarisch anhand von Prozessen, Ereignissen und Akteur:innen einzelner Länder. Diese Vorgehensweise macht angesichts der geographischen Streuung und inhaltlichen Vielfalt der Bewegung Sinn. Beispiele solcher transchronischer und grenzüberschreitender Themen sind die Geschlechterfrage (Kapitel 4), der Internationalismus und Migration (Kapitel 5), die libertäre Erziehung (Kapitel 6) oder die anarchistischen Medien (Kapitel 7). Hierbei hebt sich Enckells Geschichte des Anarchismus von den gängigen Überblicksdarstellungen ab und darin liegt auch eine der Stärken des Buches.

Eine weitere Stärke liegt in der erweiterten Chronologie. Im Gegensatz zu vielen Publikationen mit einem vergleichbaren Anspruch endet Enckells Erzählung nicht mit dem Spanischen Bürgerkrieg, der häufig als Höhepunkt und zugleich Niedergang der gesellschaftsverändernden Kraft des Anarchismus gesehen wird. Auch jüngere vom Anarchismus geprägte Bewegungen wie die Hausbesetzer:innenbewegung, der ökologische Municipalismus nach Murray Bookchin, der indigene Aufstand in Chiapas (ab 1994), die globalen Proteste gegen die Welthandelsorganisation (WTO), die Treffen der G7 beziehungsweise G8 oder das Weltwirtschaftsforum (WEF) Ende der 1990er-Jahre, die Aktionen für eine globale Migration (No Borders, No Nations) oder für eine gerechte Ernährung bei gleichzeitiger Abrüstung (Food Not Bombs) finden Erwähnung in dieser „Kurzen Geschichte des Anarchismus“. Es gelingt Enckell gut, das historische Erbe des Anarchismus bis in die Gegenwart zu ziehen, ohne gleich den Anarchismus als Urheber sämtlicher jüngerer Bewegungen im links-revolutionären Umfeld zu verklären.

Der Übergang des Anarchismus von einer vornehmlich revolutionären Arbeiterbewegung, das heißt syndikalistischen, zu einem oft unterschätzten Ausgangspunkt und Ansporn der neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit kommt dabei gut zur Geltung. Besonders lesenswert ist hierbei das Kapitel zum Syndikalismus (Kapitel 3, S. 35-43). Hier scheut die Autorin auch nicht die für den Anarchismus schwierige Frage, ob die Massenmobilisierung der Arbeiterschaft durch den Anarchismus in Gewerkschaften, beispielsweise in Spanien oder Argentinien, die revolutionäre Schlagkraft gefördert oder vielmehr den Fokus zu stark auf materielle Verbesserungen gelegt hat und damit dem Ziel der universalen Revolution im Wege gestanden ist (S. 38). Diese Frage führte häufig zu intensiven Debatten und Zerwürfnissen, nicht zuletzt im Laufe der 1968er-Bewegung, der Enckell ebenfalls ein Kapitel widmet (Kapitel 9). Anlässlich des internationalen Anarchistenkongresses 1968 in Carrara führte die Frage nach der Rolle der Gewerkschaften beziehungsweise der anarchistischen Bewegung in der laufenden und den kommenden Revolutionen zum offenen Disput. Daniel Cohen Bendit wühlte mit seinem Auftritt das Anarchismustreffen in der historischen Hochburg des Anarchosyndikalismus auf, indem er bei seiner Rede im Plenum der historischen links-revolutionären Bewegung vorwarf, die gegenwärtig „spontane revolutionäre Aktion zu hemmen“, womit er die Anarchist:inenen als eine Art „Revolutionäre von gestern“ stilisierte. Der Anarchismus erschien in den Worten der neuen sozialrevolutionären Akteur:innen als scheintot.

Gegen das Bild des Anarchismus als irrelevante politische Strömung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stemmt sich die Autorin entschieden. Sie stellt fest, dass dieser zwar während des Zweiten Weltkrieges und in der Folge massiv an Anhänger:innen verlor. Es sei jedoch gelungen, die internationalen Netzwerke und revolutionären Tätigkeiten aufrechtzuerhalten, was einen nicht unwesentlichen Anteil an der Auslösung („déclencheur“) von 1968 gehabt habe (S. 96). Als Beispiel für die unterschätzte Bedeutung nennt Enckell den anarchistischen Widerstand im Untergrund gegen den Diktator Franco in Spanien, der in Frankreich einer seiner Basen hatte. Weiter entdeckten die jungen Akteur:innen von 1968 anarchistische Autoren neu und knüpften an traditionelle anarchistische Aktionsformen wie den zivilen Ungehorsam oder die direkte Aktion an, Fabriken wurden besetzt und selbstverwaltet weitergeführt. Enckell erkennt somit in den Umbrüchen von 1968 nicht ein Zeichen des Niedergangs des Anarchismus, sondern vielmehr seine Blüte. Nach ein paar Jahren sei der Anarchismus in der allgemeinen Politik angekommen: „En quelques années s’est constitué une culture anarchiste de base, accessible et acceptée“ (S. 97). Bei dieser Interpretation dringt wohl die politische Position der Autorin durch, wobei die These nicht übereilig von der Hand zu weisen ist. Die Fokussierung im Kontext des Kalten Krieges auf Aktivist:innen, die sich auf Karl Marx, Leo Trotzki, Antonio Gramsci oder Mao Tse-tung bezogen, hat bis 1989 den Blick auf die Aktivitäten und Denktraditionen von Anarchist:innen verwehrt. Es ist in diesem Sinne dem von Enckell konstatierten Forschungsdesiderat zuzustimmen, die Geschichte der Linken ab 1968 durch das Prisma der Geschichte des Anarchismus neu zu beleuchten (S. 99).

Marianne Enckell legt mit ihrer „promenade dans les mouvements anarchistes de par le monde“ (S. 7) einen kurzweiligen, aber erkenntnisreichen Spaziergang durch die Geschichte und Gegenwart des Anarchismus vor. Trotz der Kürze schafft es das Büchlein, einen guten Einblick in die Geschichte des Anarchismus zu geben, in seine Vielfalt, Brüche und Anknüpfungen an die allgemeine Geschichte. Es handelt sich somit sowohl um eine sehr gute Einstiegslektüre für Leserer:innen, die bisher wenig über den Anarchismus wissen, als auch für solche mit Vorkenntnissen. Der besondere Wert liegt – neben dem thematischen und globalen Ansatz – im Fokus auf anarchistischen Praktiken, der über die Analyse anarchistischer Theorien hinausgeht. Die ausgeprägte anarchistische Liederkultur bildet dabei den roten Faden des Buches. Jedes Kapitel beginnt mit einer Liederstrophe und das Buch endet mit einem eigenen Kapitel zur Funktion der Lieder im Anarchismus. Auch hier weist das Buch auf einen bisher in der Anarchismusforschung zu wenig beachteten Bereich und kann insgesamt der Anarchismusforschung neue Impulse verleihen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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